Landrat: „Bedauerlicher Schritt“

Kreis zum Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention

Kreis Groß-Gerau – Der Austritt der türkischen Regierung aus der Istanbul-Konvention wird schwerwiegende Auswirkungen auf das Leben von Frauen und Mädchen in der Türkei haben. Die Kreisverwaltung Groß-Gerau verurteilt den Austritt der Türkei aus dem „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“. Denn Präsident Erdoğan hat mit dem Unterschreiben des Dekrets zum Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention das Recht von Frauen, Mädchen und LGBTIQ*-Menschen auf ein gewaltfreies Leben sowie deren Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt beschnitten, bewertet Landrat Thomas Will diesen „bedauerlichen Schritt“.

Dabei ist der Schutz von Frauen in der Türkei ein hochbrisantes Thema: Nach Angaben von Frauenrechtsorganisationen wurden allein im vergangenen Jahr mindestens 300 Frauen in der Türkei von Männern ermordet. In dem Austritt aus der Istanbul-Konvention sehen viele ein Signal an gewalttätige Männer, mit weniger Strafe rechnen zu müssen, wenn sie Gewalt gegen Frauen und Mädchen ausüben. Frauenrechtlerinnen berichten, dass gewalttätige Männer auch jetzt bereits oft straffrei oder mit zu milden Strafen aus Gerichtsprozessen kämen.

Die türkische Regierung begründet ihren Schritt darin, die Istanbul-Konvention diene der Normalisierung von Homosexualität. Da dies nicht mit den sozialen und familiären Werten vereinbar sei, habe man sich entschieden, aus der Konvention auszutreten, so Erdogans Pressestelle. Es wird darüber diskutiert, ob der Austritt aus dem internationalen Übereinkommen per Dekret verfassungswidrig sei. Es steht die Frage im Raum, ob Erdogan nicht das Parlament hätte einbinden müssen.

Die Frauenrechtlerin Fidan Ataselim erläuterte dazu: „Diese Konvention wurde nicht mit einer einzigen Ja-Stimme unterzeichnet, sondern mit dem Blut zahlloser Frauen. Deswegen werden wir Frauen uns wehren.“ Der Europarat sprach von verheerenden Nachrichten, die einen großen Rückschlag für die Bemühungen bedeute, Frauen zu schützen. Der Schritt der türkischen Regierung gefährde das Leben von Millionen Frauen, nicht nur in der Türkei.

Auch Staaten innerhalb der EU haben eine Ratifizierung der Konvention zurückgestellt bzw. erwägen aus dieser auszutreten. „Dies würde darauf abzielen, die Rechte von Frauen und Mädchen auf ein gewaltfreies, selbstbestimmtes Leben massiv einzuschränken“, bedauert Landrat Will solche Überlegungen. Im Kreis Groß-Gerau hingegen wird die Istanbul-Konvention ernst genommen: Das Netzwerk gegen häusliche und sexualisierte Gewalt in der Familie und im sozialen Nahraum im Kreis Groß-Gerau hat im Zuge einer Bedarfsanalyse zur Istanbul-Konvention für den Kreis Groß-Gerau den Bedarf eines zweiten Frauenhauses festgestellt. In seiner Sitzung am 2.12.2019 beschloss der Kreistag für den Haushalt 2020 die Bereitstellung von zwei Millionen Euro für die Errichtung eines neuen, zusätzlichen Frauenhauses im Kreisgebiet; die Einrichtung ist im Prozess.

Hintergrund: Istanbul-Konvention

Die Europaratskonvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt wurde 2017 von Deutschland ratifiziert und trat Anfang 2018 in Kraft. Mit der Istanbul-Konvention gibt es erstmals einen umfangreichen Menschenrechtsvertrag gegen geschlechtsspezifische Gewalt.

Die Umsetzung erfordert zahlreiche Maßnahmen in den Bereichen Prävention, Intervention, Schutz und Sanktion. So umfassen die Verpflichtungen 81 Artikel, die zum großen Teil den Bund zur Schaffung der Rahmenbedingungen für die Umsetzung der Gesetzgebung in die Pflicht nimmt. Die Kommunen und Länder benötigen zur Ausgestaltung der Struktur vor allem finanzielle Mittel, Netzwerke und Kooperationen. Einige der Verpflichtungen der Konvention wurden in Deutschland bereits vor Inkrafttreten umgesetzt.

Zum Beispiel war die Istanbul-Konvention auch für die Reform des Sexualstrafrechts („Nein heißt Nein“) impulsgebend. Mit der Reform des §177 StGB wurde eine konventionskonforme Gesetzeslage im Bereich des Sexualstrafrechts geschaffen.

Eine Reportage des WDR zur Situation gewaltbetroffener Frauen in der Türkei mit dem Titel „Scheidung um jeden Preis“ ist in der ARD-Mediathek noch bis zum 10. Juni 2021 abrufbar.

ggr

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